Am Spätnachmittag manches Tages, nach vollbrachter Arbeit in der gewaltigen Bibliothek des Schlosses Corvey, marschierte der greise Bibliothekar Hoffmann von Fallersleben ins Städtchen. Unterwegs, auf dem Wege nach Höxter, traf er fast regelmäßig einen Unternehmer, der an der Corveyer Allee eine Fabrik gebaut hatte. Gemeinsam bewerteten sie die Tagesereignisse, tauschten sie ihre Gedanken aus. Allerdings nicht auf der Straße. Ein Schoppen Wein lockerte die Zunge, machte sie gesprächig.
Eines Tages gesellte sich der Vertreter einer Zeitung zu ihnen, ein Reporter, der den berühmten Gast des Corveyer Schlosses über sein Leben befragen wollte. Fünf Jahre lebte Hoffmann von Fallersleben, der ja eigentlich Heinrich Hoffmann hieß und sich nach seinem Geburtsort nannte, damals bereits im Hause des Herzogs von Ratibor, Fürst von Corvey, der ihm nach langen Wanderjahren und Phasen der Unstetigkeit an der Weser Unterschlupf und Heimat gewährt hatte. Der Reporter wollte in dem Gespräch auf die politische Tätigkeit Hoffmanns hinaus, er sah in ihm einen versteckten Revolutionär, der sich wie viele Studenten in einer Zeit, die sich nach nationaler Einigung und politischer Freiheit sehnte, von der Politik Friedrich Wilhelms IV. enttäuscht gezeigt hatte. [...]
In der Unterredung mit dem Reporter vermied Hoffmann von Fallersleben eine politisch gefärbte Diskussion. Er wollte viel lieber über seine Sammlung von Kinderliedern sprechen, die 1842, ein Jahr nach der Entlassung aus dem Universitätsdienst, herausgekommen war.
„Vielleicht bin ich in einem Winkel meines Herzens Kind geblieben“, merkte Hoffmann verschmitzt an. „Deshalb sind mir im Alter meine Kinderlieder so wichtig. In der Politik hat selten etwas Bestand, weil sie sich vordergründigen Ereignissen widmet, Erfordernissen des Augenblicks – in der Hoffnung auf Ewigkeitsdauer. Menschen denken schnell um. Die nächste Generation schon weiß die Errungenschaften der Väter schon nicht mehr zu schätzen. Jedoch Verse, in denen die Volksseele sich wiederfindet, sind von bleibendem Wert. Ich habe die Bedürfnisse des Volkes entdeckt, gerade in meiner schweren Zeit, etwa zwischen 1820 und 1840. Haben Sie meine Lieder in Ihrer Kindheit nicht auch gesungen?“, fragte Hoffmann den Zeitungsmann mit spitzbübischem Lächeln. „Alle Vögel sind schon da“, „Wer hat die schönsten Schäfchen“, „O wie ist es kalt geworden“, „Kuckuck, Kuckuck, ruft `s aus dem Wald“.
„Ihre Kinderlieder haben die Zeiten überdauert“, nickte der Reporter, und der Fabrikbesitzer summte mit einem Male „Ein Männlein steht im Walde“, das auch aus dem Repertoire des Dichters stammte, vor sich hin.
„Doch besonders stolz bin ich auf meine Weihnachtslieder“, betonte der Bibliothekar.
„Weihnachtslieder von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben?“, fragte der Reporter überrascht. „Ich hätte wohl verstanden, wenn Sie ihre politische Lyrik als Vermächtnis angesehen hätten. Also, auf die Weihnachtslieder wäre ich nicht gekommen.“
Die Herren ließen sich noch eine Flasche Wein bringen, die Bedienung schenkte nach.
„Mag sein, dass es heimatliche Gefühle, Erinnerungen an die Kinderzeit sind, die mich beflügeln. Bei allen Enttäuschungen, die ich erlebt habe: Rein und makellos steht mir heute meine Kindheit vor Augen. Sie ist wie ein Licht in der dunklen Zeit des Advent – verstehen Sie?“
Der Fabrikbesitzer zündete sich eine Zigarre an und blies den Rauch gegen den Lampenschirm, der in halber Höhe zur Decke über dem Tisch ein golden schimmerndes Licht verbreitete. Der Reporter wartete mit gespannter Aufmerksamkeit auf die weiteren Worte des Dichters.
„Ich liebe die Abende, die Winterabende im Schloss und in seiner Umgebung. Seit meine Frau Ida im Schatten der alten Abteikirche begraben liegt, ist es noch einsamer um mich geworden. Mein Sohn Franz lebt als Landschaftsmaler in Düsseldorf. Ich mache am Nachmittag öfter einen Spaziergang durch die anbrechende Dunkelheit – oder eben zum Stammtisch in die Stadt. Alles in der Natur ist in Zwielicht getaucht. Die Silhouette der Stadt Höxter verblasst hinter den Weserauen oder vor dem Brunsberg. Ich höre die Uhren schlagen von St. Kilian oder St. Nikolai. Ihre Glockentöne sind mir wie Botschaften: Du hast noch etwas Zeit, Hoffmann, aber nicht mehr viel. Dann nehmen mich die Gedanken mit auf eine weite Reise zurück. Und wohin ich auch gehe – an unserer Weihnacht komme ich nicht vorüber. Ich bin wieder Kind, meine Herren, Kind in der Unschuld der ersten Jahre und mit den unbeirrbaren Gefühlen, die nur aus der Seele eines Kindes stammen können. Es ist mir, als holten mich die Kinderjahre wieder ein, hier, in der Stille der Schlossbibliothek und der Weserlandschaft, die mir so sehr ans Herz gewachsen ist. Ja, hier möchte ich bleiben. Seither trage ich die Lieder der Seele stets bei mir.“
Hoffmann kramte in seiner Rocktasche und zog ein Bündel Manuskripte heraus. „Das ist die Urfassung“, sagte er. „Sie ist in einigen Büchern abgedruckt worden.“
„Darf ich einmal sehen?“, fragte der Zeitungsmann.
Wortlos überreichte ihm der Dichter seine Werke.
Morgen, Kinder, wird `s was geben,
morgen werden wir uns freun!
Welch ein Jubel, welch ein Leben
wird in unserm Hause sein!
Einmal werden wir noch wach,
heißa, dann ist Weihnachtstag!
Wie wird dann die Stube glänzen
von der großen Lichterzahl!
Schöner als bei frohen Tänzen
ein geputzter Kronensaal.
Wisst ihr noch, wie vor`ges Jahr
es am Heil`gen Abend war?
Wisst ihr noch die Spiele, Bücher
und das schöne Hottepferd,
schönste Kleider, wollne Tücher,
Puppenstube, Puppenherd?
Morgen strahlt der Kerzen Schein,
morgen werden wir uns freun!
„Ja, die einfachen alten Lieder, Herr Professor, sind ein kostbarer Schatz unserer Erinnerung“, bemerkte der Unternehmer gedankenvoll und sah auf die Uhr. „Wir werden uns aufmachen – es ist Zeit, für den Heimweg.“
Hoffmann verabschiedete den Reporter und zückte das Portemonnaie.
„Nicht doch“, sagte der Fabrikbesitzer und griff nach der Brieftasche. „Diese Stunde beim Wein war so schön, dass ich sie dem Wirt vergolden möchte.“
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Text aus Buch: „Markt und Straßen stehn verlassen. Ein musikalisches Lesebuch zur Weihnachtszeit. 208 Seiten, Verlag Butzon & Bercker, Kevelaer.
Wir danken für die freundliche Genehmigung zum Abdruck.