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Goethe mal eher privat.
Hermann Multhaupt erzählt, wie der Dichterfürst mit seinem Sohn August nach Pyrmont reist, wo er sich von einer schlimmen Krankheit zu erholen sucht.

Die Droste und das Schützenfest von Bellersen

Die Droste und das Schützenfest von Bellersen

Hermann Multhaupt

Der Weg von Bökendorf und dem Schloss Bökerhof führt durchs freie Feld nach Bellersen. Foto: H. Multhaupt
Der Weg von Bökendorf und dem Schloss Bökerhof führt durchs freie Feld nach Bellersen. Foto: H. Multhaupt

Der Tag war heiß gewesen. Annette von Droste-Hülshoff hatte mehrmals über die Hitze geklagt und wie ihre Schwester Jenny eine Unmenge Himbeerwasser getrunken, das in der Küche für alle bereit stand. Jetzt, wo die Hitze abflaute, aber auch die Dämmerung langsam ihre dunklen Flügel entfaltete, nahm der Wind von den alten Bäumen Besitz. Er rüttelte sanft an den Ästen und brachte die Blätter zum Schwingen. Von Bellersen herauf erscholl Tanzmusik. Trompeten, Geigen und Flöten wechselten sich in der Führung des Hauptmotivs ab.

Jetzt wird dort das Tanzbein geschwungen, dachte Annette, während sie im Park auf Heinrich Straube wartete, mit dem sie verabredet war.

„Das wird wieder Ärger geben“, hatte der gesagt. „Vor allem, wenn deine Mutter Wind von unserem Treffen bekommt.“

„Sie muss es ja nicht erfahren“, hieß die Antwort; sie beruhigte den Freund jedoch nicht.

„Ich verstoße doch jeden Tag gegen die Etikette“, ergänzte er. „Ich spüre doch, dass ich hier fehl am Platz bin.“

„Das bist du nicht. Du bist Gast meines Großvaters, der dich schätzt und mit dir auf die Schnepfenjagd geht, und meiner Onkel Werner und August von Haxthausen. Die Brüder Grimm sind auch nicht adelig und sie haben ihren unangefochtenen Platz im Haus.“

„Sie lieben dich auch nicht so wie ich.“

Hatte Annette diese Antwort gehört? Die Mägde klapperten mit dem Geschirr, als sie den Abendtisch abräumten und sich die Komtesse diskret entfernte. Straube blieb noch einen Augenblick sitzen, scherzte mit Elisabeth, die sich erkundigte, ob der „hohe Herr“  noch einen Wunsch habe, schlich aber dann, bevor Hausherr Werner Adolf ihn in seine geliebten Dispute verwickelte, in den Park hinaus.

Annette ließ sich derweil vom Gesang Nachtigallen verzaubern. Heinrich Straube musste sich durch ein stilles „Psst! Psst!“ bemerkbar machen. Die Droste drehte sich um.

„Hörst du sie?“

„Wen?“

„Na, die Nachtigallen.“

„Ja natürlich höre ich sie. Aber da sind auch andere Laute.“

„Das ist die Kapelle auf dem Schützenfest in Bellersen. Hast du Lust, mit mir dorthin zu gehen?“

„Jetzt?“

„Ja, du Schlaumeier. Wann denn sonst?“

„Wird heute daheim nicht gesungen?“

„Nein, heute singen die Nachtigallen.“

„Aber wenn das auffällt? Wir können doch nicht einfach vom Bökerhof verschwinden.“

„Waschlappen. Natürlich können wir das. Ich habe mich abgemeldet. Und nach dir wird heute niemand mehr fragen. Also, was ist?“

„Ich weiß nicht.“ Das ängstlich verwirrte Gesicht Straubes konnte Annette nicht sehen.

Sie umfasste fest die linke Hand des Freundes und zog ihn aus dem Park ins freie Feld hinaus. Der Mond war aufgegangen. Auch wenn er nicht sein volles Rund zeigte, war der Weg nach Bellersen klar erkennbar. Annette gab einen kräftigen Schritt vor, dem Straube nur widerstrebend folgte. Bald ging er in einem Meter Abstand hinter der Komtesse. Die Tanzmusik wurde lauter.

„Heute war das Frauenschießen“, bemerkte Annette, „das scheint in dieser Gegend ein einmaliger Brauch zu sein.“

Straube holte auf.

„Frauenschießen?“

„Ja. Ja frühmorgens ziehen die Frauen mit den Gewehren ihrer Männer vor den Edelhof, voran die Frau des Schützenkönigs mit den Abzeichen ihrer Würde, den Säbel an der Seite, wie weiland Maria Theresia auf dem Kremnitzer Dukaten. Ihr folgt der Fähnrich mit der weißen Schützenfahne. Vor dem Hofe wird Halt gemacht, und die Schützenkönigin zieht den Säbel und kommandiert das kleine Heer ihrer bunt geschmückten Frauengeschwister – recht – links, wie beim Regiment der Schützenmänner. Ja, und anschließend geht ’s zum Schießplatz.“

Straube staunte. „Flintenweiber“  schoss es aus ihm heraus.

„Das lass nicht die Frauen hören“, drohte Annette mit erhobener Stimme, denn die Tanzmusik übertönte die nächtliche Ruhe.

„Willst du auch tanzen?“

„Ich?“ Straube machte einen Schritt rückwärts. Er beobachtete, wie Annette sich im Rhythmus der Klänge wiegte. Sie standen unweit der Tanzfläche im Schatten einer alten Buche, den Blick auf die sich im Tanz wiegenden Frauen gerichtet. Kein Mannsbild war zu sehen.

„Ich möchte schon“, sagte die Droste.

„Dann weiß es morgen die halbe Welt und erst recht deine Mutter.“

Es kam Straube vor, als mache Annette einen Schritt nach vorn. Da fasst er sie an der Schulter und hielt sie zurück. Jetzt stand sie dicht vor ihm, sie atmete heftig. Er spürte ihre kleinen festen Brüste an seinem Körper. Dann neigte sie ihren Kopf dem Gesicht des Freundes zu und küsste ihn.

„Heinrich, weiß du, wie lieb ich dich habe?“

„Ich ahne es. Ich habe dich auch lieb, aber es darf nicht sein.“

„Hör auf!“, sie stieß den Freund von sich. „Hast du das in der Schule gelernt, dass es verschiedene Sorten von Menschen gibt, die nicht zusammenfinden dürfen?“

Straube legte die Hand um die Schulter Anettes und zog sie wieder an sich. „Nicht in der Schule, aber im realen Leben.“

Sie schwiegen. Eine Viertelstunde verging. Die Tanzmusik machte eine Pause.

„Ich glaube, die Musikanten ziehen heim. Es ist bald Mitternacht.“

„Ja, Annette, wir müssen auch nach Hause.

Wortlos gingen sie zurück. Der Mond hatte sich in ein Wolkenbett verkrochen. Heinrich fasste nach Annettes Hand, aber sie entzog sie ihm. Eine noch nicht schlafmüde Nachtigall sang im Park hinter dem Bökerhof. Einen Augenblick blieben sie stehen und lauschten. Diese wunderbare Musik war unteilbar, sie gehörte allen Menschen. Die Hintertür des Schlosses war wie immer nicht verriegelt. Jeder huschte schweigend  und ohne Gute-Nacht-Gruß in sein Zimmer hinauf.

 

***

Text:

Ausschnitt aus Hermann Multhaupts Roman „Ein Wanderleben ist es immer gewesen“, der bisher noch unveröffentlicht ist.


Teaserbild:

Komposition aus zwei zeitgenössischen Karrikaturen von Ludwig Emil Grimm.

 

 

 

 

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